„Mit Sozialverhalten kann man rechnen“

„Mit Sozialverhalten kann man rechnen“

So beginnt ein aktueller Beitrag des Internet-kulturkritisch einschlägig bekannten Ulmer Psychiaters Manfred Spitzer, in dessen Untertitel er fortfährt „ … aber wollen wir das?“. Inhaltlich geht es dabei um die Konsequenzen aus dem schnell wachsenden Fachgebiet der Social Media Analytics, oder in verständlicherer Sprache: was wir alles über andere durch die systematische Analyse von Online-Medien-Inhalten, wie Facebook, Twitter, LinkedIn oder XING wissen können.

Das hat tiefgreifende Konsequenzen über die auch im deutschsprachigen Raum immer wieder diskutierten Einzelfälle hinaus. Ja, die Partyfotos vom letzten Vatertag können negative Auswirkungen für die Bewerbung bei der Sparkasse haben und, ja, Online-Beleidigung von Kollegen ist nicht gut für den Job-Erhalt. Nun gilt das aber bereits auch schon für die „Offline-Beleidigung“ am Arbeitsplatz und soziale Medien dienen eben in solchen Fällen „nur“ als Katalysatoren.

Hier jedoch soll es um die neue Qualität gehen, die entsteht, wenn viele Informationen gesichtet und systematisch interpretiert werden. Im Frühjahr 2012 ist dazu in einer englischsprachigen Fachzeitschrift, dem „Journal of Applied Social Psychology“ unter dem Titel „Social Networking Websites, Personality Ratings, and the Organizational Context: More Than Meets the Eye?“ ein Beitrag erschienen, der seitdem in der Personal- und Online-Recruiting-Welt Wellen schlägt.

Die Autoren um den Organisationspsychologen Donald Kluemper haben in einem mehrstufigen Design Facebook-Profile von externen Ratern mit Blick auf fünf zentrale Persönlichkeits-Dimensionen einschätzen lassen. Dieses in psychologischer Forschung und Praxis weitverbreitete Modell der sogenannten „Big Five“ bezieht sich auf die Dimensionen Neurotizismus („Launigkeit, Empfindlichkeit“), Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Daß die „Big Five“ Berufserfolg vorhersagen können, ist bereits seit langem bekannt und entsprechende Persönlichkeitstests für Personalauswahl und Personalentwicklung liegen auch in Deutschland vor.

Interessant ist bei der aktuellen Studie zum einen, daß die Fremdeinschätzungen auf Basis der Facebook-Profile angemessen mit der Selbsteinschätzung der Studienteilnehmer korrelierten und zum anderen, daß der daraus berechnete Score sinnvoll die Ausprägung einer sechs Monate später unabhängig durchgeführten Leistungseinschätzung durch die jeweiligen Vorgesetzten vorhersagen konnte.

Eine mögliche Schlußfolgerung daraus hat vor kurzem der Blogger Charles Handler mit der Frage formuliert: „Brauchen wir in Zukunft überhaupt noch Einstellungstests für Bewerber?“ Viele Mittelständler könnten versucht sein, zu antworten: „Die haben wir noch nie gebraucht!“, aber darum geht es an dieser Stelle nicht.

  • Denn nie zuvor haben wir über so viele inhaltlich valide Daten und Möglichkeiten der Einschätzung von Bewerbern verfügt, wie heute.

  • Nie zuvor galt es aber auch, so viele Einschränkungen im Bewerbungsprozeß zu berücksichtigen, wie Unternehmen es aktuell erleben (ein Verweis auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und die Diskussion um die sogenannte anonymisierte Bewerbung mag ausreichen).

  • Und, nie zuvor war der Bedarf nach Leistungs- und Verhaltensprognose auf einem, gerade für Mittelständler mit Niederlassungen im Ausland, zunehmend international geprägten und unübersichtlichen Bewerber-Markt so notwendig, wie heute!

Sie mögen Manfred Spitzers impliziter Antwort auf die eingangs gestellte Frage folgen und beipflichten: „Nein, das wollen wir nicht“.

Sie mögen die wichtige Frage „Dürfen wir das?“ ergänzen, aber wenn Sie Verantwortung für die Weiterentwicklung eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter tragen, müssen Sie auch die dritte Frage stellen und beantworten: „Können wir es uns leisten, diese Instrumente zu ignorieren?

Posts Carousel

Leave a Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked with *