Pflege in Deutschland. Ein Blick hinter die Kulissen.

Pflege in Deutschland. Ein Blick hinter die Kulissen.

Die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland hat ihre Studie „Transparenzmängel, Betrug und Korruption im Bereich der Pflege und Betreuung“ in Berlin vorgestellt. Dabei wird kritisiert: zu wenig Transparenz und Kontrollmöglichkeiten für die Betroffenen und jede Menge Möglichkeiten, die Abhängigkeit von Menschen mit Pflegebedarf wirtschaftlich auszubeuten. 

Im Rahmen des „Sommerloches“ natürlich eine tolle Gelegenheit, sich mit einfachen und plakativen Ausdrücken in Szene zu setzen und am Beispiel einiger weniger schwarzer Schafe eine ganze Branche zu diskreditieren. Doch ein Blick hinter die Kulissen zeigt, welcher Verwaltungsaufwand im Rahmen der Pflege heute schon zu betreiben ist. Tatsächlich haben alle Regeln – und derer gibt es mehr als genug – dafür gesorgt, dass die Pflegebranche heute in einer Dokumentationsflut ertrinkt und das wesentlichste Ziel, Zeit für die Patienten zu haben, durch diese Kontroll- und Dokumentationsverpflichtungen ad absurdum geführt wird. Gute Pflege benötigt Zeit – Zeit einzig und alleine für den Patienten! Was bedeutet das konkret?

Der Patient muss gewaschen werden, raus aus der nassen Windel, Hilfe beim Toilettengang, die wichtigen aber lästigen Kompressionsstrümpfe müssen an- und auch wieder ausgezogen werden, zudem Insulininjektionen – und vieles, vieles mehr! Und das absolut selbstverständlich und unterbrechungsfrei, von Frühmorgens bis Spätabends, von Montags bis Sonntags, 365 Tage im Jahr.

Pflegealltag bedeutet, für jeden Menschen einen individuellen Hilfeplan erstellen, da jeder Mensch anders ist und in anderen Bereichen Unterstützung benötigt.

Befragt man Pflegebedürftige oder deren Angehörige, was bedeutet gute Pflege, so antworten die Meisten, dass gute Pflege neben der Fachkompetenz mit viel Freundlichkeit erbracht werden soll, ein Lächeln auf den Lippen und nette Worte. Also kein Stress, keine Hektik! Doch die wichtigste Aussage ist, dass die Pflegeperson Zeit für mich hat! „Gute Pflege“ benötigt Zeit! Denn Zeit für einen Menschen steht für Menschlichkeit! Und Pflege ohne Menschlichkeit ist nicht möglich!

Realität ist natürlich auch, dass die Menschen immer älter werden, die Pflegekasse muss für immer mehr Menschen Pflegegeld zahlen. Die Kosten explodieren. Also wird der einfachen Lösung gefolgt und die Beiträge erhöht!!!

Besser wäre es dagegen, dass das vorhandene Budget anders verteilt wird. Clevere Ideen sind gefragt! Dazu ein konkreter Aspekt:

Warum betreiben wir heute in der Pflege – auferlegt durch Politik und Pflegekassen und auch der Angst vor Veränderung – einen administrativen Aufwand, der die Pflegekräfte enorm viel Zeit kostet – Zeit, die Ihnen beim Patienten fehlt?

Dabei ist es unerheblich, ob wir  einen Pflegedienst, einem Altenheim oder einem Krankenhaus betrachten, dieser hohe administrative Aufwand, der betrieben wird,  bringt dem  Patienten definitiv keinen Nutzen.

Betrachten wir es an einem einfachen Beispiel:

Heute ist es „Normalität“, Flugreisen im Internet zu buchen, das Ticket kommt per Mail aufs Smartphone, die Bordkarte gibt es ebenfalls elektronisch und damit ist der Weg in den Flieger frei. Keine Unterschrift, kein Stempel, keine (ungewollten) Papierkopien, keine Faxe usw…

Oder nehmen Sie den Alltag im Bankgeschäft: Wenn wir es wollen, können wir  sämtlich Bankgeschäfte mittels Online Banking betreiben, ebenfalls ohne Unterschrift, Stempel und (falls gewollt) papierlos.

Falls Sie – der geneigte Leser – bis heute der Meinung waren, im Jahre 2013 könne eine Pflegedient, ein Altenheim, oder eine Arztpraxis ebenfalls so einfach per Online arbeiten, so zeige ich Ihnen gerne einmal den bürokratischen Alltag in der Pflege.

Beispiel: Patient XY benötigt Insulin, er lebt alleine und ist nicht in der Lage, sich dieses Medikament selber zu injizieren.

Der Hausarzt stellt diesem Patienten eine Verordnung für den Pflegedienst aus. Ein Mitarbeiter des Pflegedienstes fährt zum Arzt und holt dieses Dokument ab.  Der Patient unterschreibt diesen Antrag, der Pflegedienst füllt ebenfalls den Antrag auf der Rückseite aus (so wie der Hausarzt auf der Vorderseite, also inhaltlich exakt das gleiche noch einmal), unterschreibt (natürlich 3 Unterschriften, es muss ja alles seine Ordnung haben) und stempelt den Antrag auf der Rückseite ab, ebenso wie der Hausarzt auf der Vorderseite (denn ohne Stempel ist der Antrag natürlich ungültig), dann faxt der Pflegedienst den Antrag an die Krankenkasse, kopiert den Antrag für die Akte und schickt dann zusätzlich per Post nochmals das Original an die Krankenkasse. Diese prüft den Antrag (ob alle Unterschriften, Stempel etc. vorhanden sind, oder ob die Rückseite anders ausgefüllt ist als die Vorderseite). Fehlt ein Stempel, fehlt nur ein Wort, erhält der Pflegedienst den Antrag wieder zurück, usw. usw. usw…   Dieses Procedere dauert pro Antrag (Telefonat, Fahrt, Wartezeit bei Hausarzt, Fahrt zu Patienten, ausfüllen, kopieren, faxen, zur Post bringen) Minimum 20 Minuten, pro Antrag pro Patient! Bedeutet in meinem durchschnittlichen ambulanten Pflegedienst einen administrativen Aufwand pro Monat von 80-160 Std, oder einfacher ausgedrückt, eine Halbtags- bzw. Ganztagstelle für eine Pflegefachkraft, die Sie nicht beim Patienten sein kann.

Heute ist das System von gegenseitigem Misstrauen geprägt und legt den Schwerpunkt auf Administration und Kontrolle anstatt auf den Betreuten, von dem wiederum alle Beteiligten tagtäglich sagen, dass er bei Ihnen im Mittelpunkt  steht!

Ein weiteres Beispiel:

Die Abrechnung wird mittels Datenübertragung (also sehr modern – online) durchgeführt! Sprich ähnlich wie beim Onlinebanking hat die Krankenkasse alle Daten elektronisch vorliegen! Doch nun muss zusätzlich der vom Patienten unterschriebene Leistungsnachweis sowie der vom  Pflegedienst unterschriebene Begleitzettel und ggf. die Bewilligung der Krankenkasse (der geneigte Leser ahnt es schon, natürlich alles im Original, gestempelt, unterschrieben usw..) an das jeweilige Abrechnungszentrum geschickt werden.

Welche Kosten bringt dieses Prozedere mit sich? Lassen Sie uns das grob abschätzen.Stundenlohn einer Pflegfachkraft (Gehalt und Sozialabgaben):20 € x 20 Stunden Aufwand an administrativen Aufgaben pro Woche = 400 € x 52 Wochen pro Jahr = 20.800 € x 10 Krankenkassen/Abrechnungszentren (da dort dieser Aufwand vom dortigen Verwaltungspersonal ebenso betrieben wird) = 208.000 € x 12.500 Pflegedienste in Deutschland.

·         Gleich: Kosten ohne Nutzen von 2.620.800.000 € (2,6 Milliarden €), es gibt Berechnungen des größten Softwareanbieters für Pflegedienste, der sogar von einer jährlichen Kostensumme von über 5 Mrd. Euro ausgeht.

Lösungsansatz:

Wenn Politik und Pflegekassen tatsächlich dem Pflegebereich die Wertschätzung und das Vertrauen schenken, von denen Sie immer sprechen, dann können Sie diesen Worten konkrete Taten folgen lassen, in denen Sie die Pflegebranche von überflüssiger Administration entlastet. Dadurch würde Kapazität frei, den Patienten optimal zu betreuen und auch seitens der Pflegekasse die tatsächliche Arbeit vor Ort am Patienten zu beurteilen und nicht zu prüfen, ob die Akten ordnungsgemäß geführt werden (heute der Schwerpunkt einer Prüfung). Zudem wäre auch Zeit vorhanden, sich um die „schwarzen Schafe“ in der Branche zu kümmern und dort für Verbesserungen zu sorgen, statt einfach alle (auch die heute schon mit sehr guten Noten bewerteten Dienste) unter einen pauschalen Verdacht zu stellen.

Doch bei dieser Vorgehensweise wäre „Denken in Lösungen“ gefordert und davon sind die „Ankläger“ weit entfernt. Zudem wäre eine solche Vorgehensweise zwar gut für die Betroffenen, aber nicht medienwirksam.

Der Autor betreut  – seit der Startphase in 2010 –  einen privaten ambulanten Pflegedienst im Rahmen der strategischen Ausrichtung, der betriebswirtschaftlichen Organisation sowie der Personalentwicklung.

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