Eine konsistente Konzeption ist nicht erkennbar
Rezension “Systemische Organisationsentwicklung”, Bernd Schmid (Hrsg.) Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart, 2014
Organisationsentwicklng oder Neudeutsch: business development ist die wichtigste Pflicht der Leitung und Leitungsmitglieder einer Organisation. Organisationsentwicklung ist komplex, vielfältig und nie beendet. Insofern ist diese Rezension auch etwas umfangreicher und deutlich in der Stellungnahme. Das Institut für systemische Beratung in Wiesloch ist eine anerkannte und renommierte Einrichtung in Deutschland. Man kann wohl zu recht sagen: Ein Leuchtturm in der Branche.
Als systemischer Management Coach und Ausbilder von systemischen Management Coachs bin ich sozusagen eine Art Verwandter des isb in der Welt der „systemisch” Denkenden und Handelnden.
Ich habe das Buch über vier Wochen bewusst für meinen Erkenntnisdrang und Lernwillen ausschließlich genutzt. Soweit es geht, wollte ich mir eine profunde Meinung über das Thema und den Anbieter machen. Insofern entspreche ich als Leser dem Buchklappentext.
• Das Buch umfasst 278 Seiten. Es ist in drei Teilen gegliedert mit insgesamt 18 Kapiteln. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis (98 Nennungen, davon von B. Schmid 43 Veröffentlichungen), ein Stichwortverzeichnis und eine Kurzvorstellung der einzelnen Autoren runden das Bild des isb ab.
• Als Systemischer Management Coach, Berater von Führungskräften und Unternehmen, Entwickler von PE- und Organisationseinheiten gibt es eine Menge zu lesen, mit eigenen Erfahrungen, Einschätzungen, Wissensbestände abzugleichen, infrage zu stellen aber auch eigenes Wissen anzureichern. Insofern wäre es für mich lustvoll mit den Autoren zu diskutieren und zu streiten. Streiten über fachliche Einordnungen und Bewertungen durch die Autoren aber auch streiten um Erkenntnis zum Thema systemische Organisationsentwicklung. Fast jede Seite des Buches gibt mir Anlass, das eine oder das andere zu wollen. Somit würde so eine Rezension wohl auch an die 330 Seiten lang werden. Um dem aus dem Weg zu gehen, versuche ich mich auf das aus meiner Sicht Wesentliche zu beschränken, in der Hoffnung dass die Leser der Rezension einen einigermaßen „vernünftigen Überblick” über Inhalte und Methodik des Buches zu erfahren.
• Teil 1 beschäftigt sich mit “OE als Entwicklung menschlicher Systeme”. Teil 2 ist überschrieben mit “OE-Praxis heute und morgen”. Der Teil 3 ist betitelt mit “Weitergehende Betrachtungen”.
• Dem Leser werden vielfältige Aspekte und Betrachtungsweisen der Systemischen Organisationsentwicklung angeboten – insofern ist das Buch lesenswert!
• Leider ist die Abfolge der Kapitel und deren Inhaltsdarbietung wenig lernfreundlich, teilweise unverständlich und streckenweise eine Zumutung. Obwohl die Autoren sich über Lernen auslassen, scheinen sie einen fachlichen Nachholbedarf in der Strukturierung der Didaktik und Methodik zu haben.
• Im Kontext „Lehren und Lernen” gibt es die Didaktik, die die legitimierte Auswahl von Fachinhalten widerspiegelt – und es gibt die Methodik, die die abstrakten Prozesse für wirksames Lernen beschreibt und es gibt Taxonomien, die den Kompetenzgrad des Erlebten beschreiben.
Ich schreibe dies deshalb so bewusst, weil das isb sich in allen diesen essenziellen Bereichen von “Lehren und Lernen” bewegt: als (Vor-)Denker zum Thema systemische Organisationsentwicklung und als Ausbilder von systematischen Organisationsentwicklern und systematischen Organisationsberatern.
In der Methodik gibt es für die Gestaltung von Lernprozessen ein paar Grundregeln: vom Einfachen zum Schwierigen, vom Bekannten zum Unbekannten, vom vom Konkreten zum Abstrakten und vom Allgemeinen zum Speziellen. Die Taxonomiestufen sind faktisch richtiges Wissen, kontextbezogenes Anwenden von Wissen, Reflexion systematischen Agierens und konstruktivistischer Kontexttransfer.
Unter diesen Gesichtspunkten kann ich dem Leser nur empfehlen, eine andere Reihenfolge der Wissensaufnahme und Erkenntnisgewinnung vorzunehmen. Mein Vorschlag zur Kapitelreihenfolge, um zu Verstehen um was es eigentlich geht: 12, 14, 11, 18, 2, 4, 13. Danach sind folgend Kapitel interessant, wobei die Reihenfolge nicht wichtig ist: 3, 5, 8, 10, 9. Danach ist das Kapitel 7 „Heuristiken erfahrener Organisationsentwickler” eine gute Verständnisergänzung. Die Kapitel 15, 16, und 17 bieten Einzelthemen, die wie so manche Themenangebote im Buch kaum oder gar nicht in einem konzeptionellen roten Faden zusammengeführt sind.
Beispiel 1:
Zumutung
Die ersten Sätze des Kapitels „Einleitung” finde ich diskrimierend, ausgrenzend und …….. Sie lauten: “Dieses Buch schlägt einen Bogen von der systemischen Personenqualifizierung über die personensensible Systemqualifizierung (Schmid/Fauser 1994a) zur konkreten Organisationsentwicklung(OE) und Kulturentwicklung (KE) in Organisationen”.
Als Leser werde ich aber dumm gehalten, weil mir keiner erklärt, was denn systemische Personenqualifizierung und personensensible Systemqualifizierung genau ist. Mit keiner Silbe im Buch. Was soll ich dann mit solchen Formulierungen anfangen – oder ist das Buch doch nur für Insider geschrieben und nicht wie auf dem Klappentext beschrieben ist?
Weiter heißt es: „Natürlich haben wir als Systemiker gelernt, jenseits der Belange einzelner Menschen in Systemen zu denken und verstehen sogar Luhmanns Ansatz der Funktionssysteme, in denen der Mensch Umwelt darstellt. Doch können fast alle Praktiker nur unter geistiger Verrenkung so denken”.
Danke Herr Schmid, dass Sie mir als Praktiker ein gewisse intellektuelle Unterfunktkion bescheinigen – oder wollen Sie sich mit der Formulierung vor mir erhöhen? Als ich das las, kam in mir ein Mobbinggefühl zu Tage.
Zudem erweckt der Text „jenseits der Belange einzelner Menschen” bei Assoziationen zu Kollektiven im Kommunismus. Gilt der Einzelne nichts oder wenig, ist das System alles? Verschwindet der Einzelne in der Masse der Vielen?
Mich hat diese Sicht des Systemikers B. Schmid sehr verunsichert. Zumal sie ernsthaft nicht aufgelöst wird – dies hängt wohl mit dem 2. Beispiel zusammen.
Beispiel 2:
Der Systemiker und das Systemische.
Bernd Schmid verbindet mit “systemischem Verständnis und systemischem Wirken” ein systemtheoretisches Verständnis, dass er aber nicht legitimiert. Immerhin gibt es viele Systemtheorien, die von Einzelwissenschaftler kreiert wurden, weil sie mit „ihrer” Systemtheorie eine Erkenntnis zu einem für sie interessanten Thema fokussiert haben. Er leiht sich von einer Systemtheorie die Erkenntnis „Differenz” und führt die Begriffe System und Umwelt ein – Kapitel 12.2, Seite 193. Er begründet aber nicht, warum er diese Unterscheidung benötigt. Er weicht sie in der selben Textstelle bis zur Unkenntlichkeit auf. Zudem wird dieses Verständnis in den beiden Teilnehmerberichten zur Ausbildung nicht gemannt – Kapitel 18. In der sehr guten Wiedergabe einer Organisationsentwicklung – Kapitel 11 – wird auch nicht darauf zurückgegriffen. Nur im Kapitel 7 „Heuristiken erfahrener Organisationsentwickler” berichtet Prof. Wimmer über Erkenntnisgewinn durch Systemtheorien.
Als Leser fragt man sich: Warum System und Umwelt, wenn es nicht zur Erkenntisgewinnung und zur Ausbildung genutzt wird – auch nicht des Lesers.
• Grundsätzlich kann gefragt werden, ob die Verständnisannäherung an „Organisation” systemtheoretisch erfolgen muss? St. Gallen hat sich von der „systemischen Unternehmensführung” abgewandt und sein Produkt „Das neue St. Galler Management-Modell” untertitelt mit: Grundkategorien einer integrierten Managementlehre. Wer Unternehmen mal gegründet („gezeugt”) hat, sie als CEO geführt hat, weiss um das „Zusammengesetzte” der Organisation.
Organisationen sind in einer vernetzten Wirklichkeit. Sie haben keine Umwelt. Wer System und Umwelt” benötigt um „Wahrnehmungen über eine Organisation zu ermöglichen”, wird dadurch Organisation als Wertschöpfungsstruktur nicht verstehen. Zudem trägt der Berater Theorien in die Organisation, die nicht ihrer Verifizierung als Tummelort dienen.
Beispiel 3:
Diktion, Begriffsverwendungen und Satzbau – also: Semantik des Buches
Ein Teil der Kapitel sind in einer verständlichen Sprache formuliert. Als Leser bekommt man schnell einen Zugang zu den Inhalten und deren Sinn im Zusammenhang mit dem Thema systemische Organisationsentwicklung.Ein anderer Teil der Texte – hier insbesondere wenn es darum geht grundsätzliches Verständnis von systemischer Organisationsentwicklung zu bekommen, sind in einer sehr eigenen Diktion. Auf den Seiten 205 bis 207 im Kapitel 13.8 „ Menschenbilder und kulturelle Auswirkungen – Beitrag zu einem wissenschaftliche Diskurs” wird ein Brieftext von B. Schmid wiedergegeben, der in einer Begriffwelt geschrieben ist, die wohl nur intime Kenner von systemtheoretischen Disputen erahnen können. Was hat der Leser davon? und: ist nun systemische Organisationsentwicklung Wissenschaft oder wie auf S. 7 beschrieben eine Praxisveranstaltung: „Im isb-Ansatz wird OE nicht von außen konstruiert und dann implementiert, sondern durch die realen Player innen, life entwickelt.” Der letzte Satz wird aber auch beim Lesen von Fällen aus der Praxis der Organisationsentwickung durch die isb-Ausbilder nicht stringent berücksichtigt.
Beispiel 4:
Behauptungen
• Das Kapitel 2.1.3 – S. 8 – besteht aus 2 Sätzen: „Der isb-OE-Ansatz ist mehr definiert durch Perspektiven, Prinzipien und Haltungen als durch Schemata für Ereignisse oder Vorgehensweisen. Dieser Zugang wird in Kapitel 2.4 erklärt”
• Kapitel 2.4 unterteilt und definiert aber nicht konkret was denn nun Prinzipien (Plural), Perspektiven (Plural) und Haltungen(Plural) sind. Außer allgemeinen Vorerklärungen zu den drei Begriffen findet der Leser nichts. Hingegen werden im Kapitel 2.5 „Bewährte isb-Konzepte und Prinzipien” 10 Themen vorgestellt. Aber hier kann man lesen, dass sie zum Verständnis des systemischen Organisationsentwicklers des isb gehören – damit ist es ein Schemata.
• Ganz schwierig wird es für den Leser auf der S. 8, Kapitel 2.1.5 „Am isb haben sich bezogen auf OE und KE spezielle Arbeitsformen für das Entwickeln, Kooperieren und Lernen bewährt. Sie haben wiederum ihre eigene Logik, in der sich das isb-Verständis spiegelt”.
Als Leser habe ich also nur die Möglichkeit des Glaubens, denn bei allem Verständnis für „Heuristik” , legitimiert wird es nicht.
Beispiel 4:
Fachliche Fragwürdigkeiten
Im Kapitel 6.2 „Das Dreieck der Organisationsentwicklung” wird auf der S. 65 Die Grafik des St. Galler Management Modells wieder gegeben mit einer eigenen Interpretation: „Abbildung 7: Such-, Entscheidungs und Handlungsfelder im Management”. St. Gallen definiert es in dem buch gänzlich anders -S. 21-23. Der gleiche Autor des vorliegenden Buches beschreibt und bewertet das St. Galler Management Modell im Zusammenhang mit dem Dreieck der Organisationsentwicklung – Strategie, Struktur, Kultur, (S. 64) : „Seine deutlichste Abwandlung hat es im St. Galler Management Modell nach Ulrich erfahren. Dort ist es eingebetteten eine Vielzahl von Faktoren in dem versuch, die Führungswelt in ihrer Vollständigkeit zu beschreiben, und wird dadurch auch unhandlich”.
Weiter heißt es vom selben Autor- S. 65 -, der Partner des isb ist:” So gibt es im Zusammenhang mit dieser Darstellungen den geflügelten Satz: Structure follows Stratregy. Das sich die Struktur im Sinne einer Aufbau- und Ablauforganisation allerdings aus der Strategie ableiten läßt und somit die Strategie immer zu erst entwickelt und bearbeitet werden muss, ist eine nicht haltbare Annahme”.
Wenn dies ein Partner des isb formuliert, kann ich nur sagen :„O Gott”. Es ist fachlich falsch und nicht im Sinne des Isb. Auf der S. 38 wird Kultur definiert: “Kultur ist ein Sammelbegriff dafür, wie Wirklichkeit bewusst und unbewusst, gewohnheitsmäßig oder kreativ gemeinsam gestaltet wird.” Dies bedeutet: alle Organisationen leben zunächst einmal vom zu bearbeitenden Thema. Sie haben ihre Daseinsberechtigung, weil man Autos produzieren will oder Taxidienste anbieten will usw. Dann entscheidet man sich für die Vorgehensweise der Wertschöpfung in seiner Wirklichkeit. Es entsteht die Strategie und dann legt man fest, in welcher Struktur von Zuständigkeit, Kommunikation und Arbeitsbedingungen im operativen doing alles realisiert werden soll.
Zusammenfassungen:
Ein Grundsatz und 10 Angebote an das Isb:
Eine konsistente Konzeption sollte ein inhaltliches und methodisches Erkenntnis- und Handlungskonstrukt sein, dass auf unterschiedlichen abstrakten Ebenen Interessen, Anforderungen und Handlungen der systemischen Organisationsentwicklung sichtbar verbindet. Eine Grafik könnte hier helfen.
1. Kulturentwicklung als Teil der Organisationsentwicklung verstehen und nicht als zwei sich ergänzende Themen sehen. Die Organisation hat nicht eine Kultur sondern viele Kulturen. Die Leitkultur einer Organisation ergibt sich aus der Vision einer Organisation.
2. Auflösen der systemtheoretischen Sicht „System und Umwelt”, da im Buch deutlich wird, dass diese Sichtweise keine praktische auf die Organisation zu übertragende Erkennisse bringt. (Die Sichtweise erfreut nur den Berater und nicht den Kunden „Organisation”).
3. Bekennen Sie sich offen zum Konstruktivismus in und über die Organisation und nicht nur indirekt, wie in den Texten lesbar.
4. Das „Ding” Organisation genauer allgemein und konkret definieren: es gibt nicht die Organisation sondern viele individuelle Organisationen. Und es gibt die Organisationen in der Organisation.
5. Anerkennen, dass Organisationsentwicklung einseitig vom TOP-Management und den Leitenden abhängt.
6. Den Begriff “Entwicklung menschlicher Systeme” ersetzen durch “Entwicklung motivierender Wertschöpfungssysteme”. Die strategische Daseinsberechtigung einer Organisation besteht In der Generierung von Wertschöpfung.
7. Das Scheitern von systemischer Organisationsentwicklung ist nicht gleichzusetzen mit dem Scheitern der Organisation in ihrem Wertschöpfungsauftrag – damit vermeiden Sie den Eindruck der nicht legitimierbaren „Alternativlosigkeit” des isb-Ansatzes.
8. Systemische Organisationsentwicklung denkt und handelt vom Empfänger der Wertschöpfungsleistung der Organisation und nicht von der Deutungskonstruktion des Beraters. Hier gilt es eines radikalen und zum Ende gedachten Perspektivwechsels.
9. Organisationen sind Konstrukte vielfältiger Interessen und nicht allein die Konstruktion menschlicher Interessen.
10. Systemische Organisationsentwicklung wird nur „funktionieren”, wenn der Berater eine konsequente Binnensicht einnimmt. Beratungen aus der konstruktivistischen Sicht des Beraters ermöglichen keine nachhaltige Selbstentwicklung der Organisation: die Organisation bleibt am Tropf.
Fazit 1:
Ich bin froh, daß ich mich Anfang der siebziger Jahre gegen eine Tätigkeit als „systemischer Organisationsentwickler” entschieden habe – siehe die Ausführungen von Alexander Exner auf den Seiten 99 bis 108. So habe ich das Hin und Her der Definition einer Daseinsberechtigung vermieden und mich damit nicht dauernd in Identitätskrisen gestürzt, die auch Folgen bei Kunden haben.
Fazit 2:
Die Inhalte und die Methodik des Buches haben bei mir keine Motivation ausgelöst, ein systemischer Organisationsentwickler des isb zu werden, weil eine konsistente Konzeption als Ausdruck einer Profession oder Professionalität des Erkennens aus einer Organisation und Handelns in einer Organisation fehlt bzw sich mir nach redlichem Bemühen nicht erschließt.
Fazit 3:
Jeder Leser sollte darauf achten, daß er nicht Opfer seiner individuellen Erkenntniswünsche wird. Durch die überwiegend abstrakten Formulierungsangebote im Text, die individuell gedeutet werden müssen, kann es schnell dazu kommen, „Erkenntnisse” in den Text zu deuten, die nicht angeboten werden. Anderseits gibt es aber viele Verständnisangebote, die nicht schnell und sicher erkennbar sind. Lesen Sie das Buch entspannt, langsam, öfter und nicht nur von vorn nach hinten, sondern auch einzelne Kapitel in einer zufälligen Reihenfolge.
Fazit 4:
Als Leser sollten Sie Lexika und Fachbücher speziell aus der BWL und Systemtheorie zur Verfügung haben. Im Buch werden viele Begriffe und Diktionen verwendet, die nicht erklärt werden. Nach dem elitären Motto: sowas weiss man doch…
Diese Rezension wurde aus Hingabe für die systemische Organisartionsentwicklung und aus Respekt und Wertschätzung des isb geschrieben. Punkt.
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