„Schluss mit dem Optimierungswahn!“, so lautet die Überschrift über ein Interview, welches dieser Tage in der Wirtschaftswoche-Online veröffentlicht wurde.
http://www.wiwo.de/erfolg/beruf/jobstress-mitarbeiter-koennen-auch-nein-sagen/10738210-3.html
Ja, wann haben Sie sich zuletzt so richtig gefreut? Zum Beispiel darüber, dass das Essen bei Ihrem Lieblingsitaliener schlechter war als beim letzten Besuch? Oder darüber, dass ihr jüngstes Smartphone weniger kann als das Alte?
„Schluss mit dem Optimierungswahn?“
Ich freue mich auf Ihre Meinung.
Es geht – mal wieder – um den Jobstress: „Der gemeine Arbeitnehmer steckt im Optimierungswahn: Er muss immer mehr, schneller, besser sein. Die Unternehmen forcieren die Entwicklung. Das führt über kurz oder lang zum Kollaps. Wie man das Hamsterrad verlässt.“
Wollen wir zu viel?
„Wir leben in einer Welt der Optimierung: Wir wollen alles optimieren, wir wollen überall mehr erreichen und das ist einfach irgendwann nicht mehr möglich. Aber wir versuchen es trotzdem. Das hat auch im vergangenen Jahr der Stressreport der Techniker Kasse belegt. Der größte Stressor in unserem Leben ist die Arbeit, auf Platz zwei folgen die eigenen Ansprüche an uns selbst. Bei Frauen sind sie sogar auf Platz eins. Und das ist genau der Punkt. Wenn jeder sagen würde: „Ich gebe mein Bestes und mache meinen Job gut, ich mach den gern und bringe mich hier voll ein und mehr muss ich nicht“ – dann wären wir nicht völlig kaputt und würden uns nicht verheizen. Wir würden uns einfach angemessen verhalten. Aber wir können ja selber gar nicht aufhören. Wir drehen ja dieses Rad mit, indem wir sagen: Es muss noch mehr sein, es muss noch schneller gehen.“
Ja, liebe Leserinnen und Leser, so einfach ist das mit dem angemessenen Verhalten. Sie geben einfach Ihr Bestes (was natürlich rein gar nichts mit Optimierung zu tun hat), bringen sich voll ein und mehr müssen Sie nicht tun. Punkt, aus. Ob ein Kunde das vielleicht anders sieht und andere Qualitätsansprüche hat? „Mir doch egal, ich mache mich nicht kaputt.“ So einfach kann das sein, auch in Unternehmen, die sich in einem wettbewerbsintensiven Umfeld behaupten müssen. Wir schalten alle einen Gang zurück. Die Menschen in den Ländern, die über weniger Wohlstand verfügen als wir, halten einfach still und kaufen unsere Produkte, damit wir in Ruhe und ohne Stress eine ruhige Kugel schieben können.
Was – um Himmels willen – macht uns auch nur im Ansatz glauben, dass dies eine realistische Option ist? Für mich persönlich noch spannender aber ist die Frage: warum akzeptieren wir in nahezu allen Lebensbereichen das Leistungsprinzip, außer im beruflichen?
Die Stadien in aller Welt sind voll mit Zuschauern, die vor allem die Gewinner bejubeln wollen. Schon der Zweitplatzierte wird mitunter gnadenlos ausgepfiffen, wenn er hinter den Erwartungen zurückbleibt. Hinter den Erwartungen der passiven Zuschauer wohlgemerkt.
Wer pfeift eigentlich solche Mitarbeiter aus, die nur 75% ihres Leistungsvermögens bringen und deshalb zum Beispiel die Ware drei Tage zu spät beim Kunden ausgeliefert wird?
Schauen wir uns ein Beispiel aus der Welt des Sports an, nämlich die Entwicklung beim Marathon: mit der Zeit von 02:55:18 erzielte ein gewisser John Hayes (USA) in London im Jahr 1908 einen Weltrekord. Beim Berlin-Marathon 2014 hat diese Zeit immerhin noch zu Platz 725 ausgereicht. Ein junger Kenianer namens Dennis Kimetto siegte übrigens in neuer Weltrekordzeit von 2:02.57 Stunden. So ein Optimierungswahnsinniger. Hätte er den Weltrekord nicht unangetastet – unoptimiert – bei der alten Marke belassen können? Ein kleiner Spaziergang von 100 m zwischendurch hätte völlig ausgereicht. Vielleicht wäre er im Ziel auch nicht so kaputt gewesen, hätte sich nicht so verheizt gefühlt.
Was treibt Menschen dazu, sich dem „Optimierungswahn“ hinzugeben?
Vielleicht gehört er zu den „unveräußerlichen Rechten“, von denen die Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung spricht, zu denen „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ gehören. Was als Glück empfunden wird, ist natürlich individuell sehr verschieden. Glücklich kann sich sicherlich derjenige schätzen, der die Freiheit hat, die sich aus dieser Individualität ergebenden Alternativen überhaupt verfolgen zu dürfen.
Dieses Streben nach Glück impliziert einen aktuellen Zustand, der als defizitär empfunden wird. Es ist der „sense of urgency“, das Gefühl der Dringlichkeit, das als entscheidende Triebfeder und Ausgangspunkt jedes Change-Management-Projekts angesehen werden kann. Kein Mensch hat beim Change Management wohl jemals eine Verschlechterung der aktuellen Situation beabsichtigt. Das es bei aller guten Absicht schon einmal anders gekommen ist als gedacht, ist weniger ein Problem der Absicht als vielmehr der Durchführung.
Und so treiben sich solche Menschen zu Höchstleitungen an, die in dem Ausleben ihres Leistungsmotivs (nach dem Motivationsforscher David McClelland) das Streben nach Glück sehen. Es ist ihr gutes Recht und kein zu diffamierender „Optimierungswahn“. Der Wohlstand ganzer Gesellschaften basiert auf den Leistungen dieser „Optimierungswahnsinnigen“.
Ach ja, da war ja noch die Eingangsfrage, ob Robert Bosch in diesem Sinne wahnsinnig gewesen ist, wenn er seinerzeit forderte:
„Immer soll nach Verbesserung des bestehenden Zustands gestrebt werden, keiner soll mit dem Erreichten sich zufrieden geben, sondern stets danach trachten, seine Sache noch besser zu machen.“
Zusammenfassung
Unterstellt, dass wir auch in Zukunft unser Wohlstandsniveau halten wollen: ist es dann realistisch anzunehmen, dass die Forderung nach Optimierung, dass die Anforderungen an die persönliche Produktivität sinken werden, wenn die Anzahl der erwerbsfähigen Menschen bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum rückläufig sein wird?
Wenn also die Belastungen nicht geringer werden, ist es dann nicht sinnvoller, sich mit der Frage der Beanspruchbarkeit auseinanderzusetzen?
Peter Drucker, einer der wohl bedeutendsten Management-Autoren, hat es in einem seiner letzten Aufsätze auf den Punkt gebracht: Nur derjenige kann die heutige Fülle persönlicher und beruflicher Herausforderungen und Möglichkeiten leben, der eigenverantwortlich ist.
Anders ausgedrückt: um im Strudel der eigenen und (vermeintlich) fremden Anforderungen nicht unterzugehen, muss der Einzelne seinen Standpunkt klar definiert haben. Er oder sie muss sich mit sich selbst auseinandersetzen. Klingt einfacher als es ist, weil die Komfortzone verlassen werden muss. Bei der Auseinandersetzung mit dem Selbst sind unliebsame, kritische Fragen an der Tagesordnung: Wer bin ich? Was ist mein Ziel und wie kann ich es Erreichen? Was mache ich falsch und wie kann ich mich ändern?
Aber diese Auseinandersetzung lohnt sich: wer diese Fragen für sich geklärt hat, kann sich selbst führen und ist den täglichen Belastungen – ob beruflich oder privat – besser gewachsen.
Viel Freude bei der Etablierung einer leistungs- und mitarbeiterorientierten Unternehmenskultur
Ihr
Michael Kohlhaas
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