Karl Marx steht wie kaum eine Figur für die Verbindungen, aber auch die Konflikte zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China. In China als geistiger Vater des Kommunismus verehrt verkörpert sein Name hierzulande Gedankengut, das zu der Ideologie eines sehr dunklen Kapitels der deutschen Geschichte erhoben wurde. Doch inwieweit prägt die Figur von Marx auch das wirtschaftliche Verhältnis zweier Staaten in einer Zeit, in der die Globalisierung ihren Höhepunkt erreicht zu haben scheint? Der rege Wettbewerb zwischen Peking und Berlin ist auch ein Wettbewerb der wirtschaftlichen und politischen Systeme. Auf der einen Seite die Bundesrepublik, das Kraftzentrum Europas, dessen System von der Aufklärung geprägt und dem Glauben an die wirtschaftliche Freiheit genährt wird. Auf der anderen Seite die aufsteigende Weltmacht des fernen Ostens, die neben der militärischen Stärke auch das Prinzip der Soft Power für sich entdeckt und in der die Verantwortung des Einzelnen hinter die Deutungshoheit des Kollektivs zurücktritt.
Ein Blick in die Medien erweckt bisweilen den Eindruck, dass die deutsche Volkswirtschaft dem unaufhaltsamen Niedergang geweiht sei, während uns China, und in dessen Windschatten die schnell wachsenden Volkswirtschaften Südostasiens, zusehends überholen. Doch deckt sich dieses Bild mit der Wirklichkeit? In welchen Bereichen hat die Bundesrepublik im direkten Vergleich die Nase vorn, und wie sicher sind diese Vorsprünge?
Die Volkswirtschaften der beiden Länder weisen durchaus Ähnlichkeiten auf. So handelt es sich bei beiden um exportorientierte Märkte mit einem vergleichsweise hohen Anteil industrieller Fertigung. Dennoch verfügt Deutschland über eine ganze Reihe spezifischer Standortvorteile, die auch nicht durch Firmenübernahmen exportiert oder egalisiert werden können. So zeichnet sich die Bundesrepublik durch ein hohes Maß an politischer Stabilität, eine gut funktionierende Verwaltung, ein im weltweiten Vergleich herausragendes Maß an Rechts- und Investitionssicherheit und die Nähe zu den deutschen Universitäten und Forschungsgesellschaften aus.
Sowohl die deutschen Universitäten als auch die hiesigen Forschungsgesellschaften (Fraunhofer Gesellschaft, Max-Planck-Gesellschaft, etc.) genießen Weltruf. Zu den 100 besten Universitäten der Welt wurden im vergangenen Jahr zehn deutsche Universitäten, jedoch nur zwei chinesische Hochschulen gezählt. Ein solches Wissenschaftscluster zu entwickeln ist eine Aufgabe von Generationen und auch zukünftig ein Standortvorteil der Bundesrepublik, sofern es uns gelingt, die rechtlichen wie steuerlichen Rahmenbedingungen für angewandte Forschung und den Zuzug von ausländischen Forschern attraktiv zu halten. Das Resultat der deutschen Bildungslandschaft, der Hochschulen und des dualen Bildungssystems ist ein hoher Grad der Mitarbeiterqualifikation, die weltweit dritthöchste Anzahl von Patentanmeldungen und die Position als führender europäischer Technologielieferant. Insbesondere als Standort für wissensintensive Präzisionsfertigung hat Deutschland daher eine weltweite Spitzenposition inne.
Zudem nimmt Deutschland im internationalen Korruptionsindex regelmäßig einen der vorderen Plätze ein, so im vergangenen Jahr Rang 12 von 180 untersuchten Staaten, während sich China Rang 77 mit Serbien, Suriname und Trinidad und Tobago teilen muss. Der Zugang zum europäischen Wirtschaftsraum, die hohen Qualitätsstandards und nicht zuletzt die hohe Lebensqualität für die Angestellten sind weitere Faktoren, die der deutschen Volkswirtschaft einen Vorteil gegenüber China verschaffen.
Auch aus der Sicht der Verkehrspolitik ist Deutschland gut aufgestellt: Die Bundesrepublik profitiert von der zentralen Lage im Herzen Europas und den im internationalen Vergleich herausragend ausgebauten Fernverkehrsnetzen. Im Gegensatz zur Volksrepublik, dem flächenmäßig viertgrößten Land der Erde, kann in der Regel in wenigen Stunden jeder Ort in Deutschland und viele Orte innerhalb Europas erreicht werden. Deutschland nutzt seine geographische Lage erfolgreich und positioniert sich als Umschlagplatz für den weltweiten Schiffsverkehr – insbesondere aus dem asiatischen Raum, als Drehschreibe für kontinentale und interkontinentale Flugverbindungen und mit seinem Straßen- und Schienennetz als Bindeglied im europäischen Binnenmarkt zwischen den Volkswirtschaften Mittel-, Ost- und Südeuropas. Im städtischen und halbstädtischen Raum verfügt Deutschland zudem über ein hervorragendes System des öffentlichen Nahverkehrs. Eine intakte Verkehrsinfrastruktur ist schlussendlich das Fundament für Mobilität, Produktion und Handel, auf die transportintensive Branchen wie die chemische oder die Automobilindustrie angewiesen sind.
Trotz der hervorragenden Ausgangssituation steht auch Deutschland vor einer Reihe von Herausforderungen, die die Bundesregierung im jüngsten Koalitionsvertrag auch entsprechend adressiert hat und bereits angeht. Zu den größten Herausforderungen zähle ich insbesondere den demografischen Wandel und die Vorbereitung des Bildungs- und Arbeitsmarktes auf die Digitalisierung. Doch auch dem Erhalt des Verkehrswegenetzes, der Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsprozessen, der Vereinfachung des Steuersystems und einer nachhaltige Senkung der Energiekosten wird eine besondere Bedeutung zukommen. Es wird darum gehen, sich sowohl für Start-Ups als auch für Zukunftsbranchen wie die Biotechnologie, die Nanotechnologie und die Entwicklung der künstlichen Intelligenz als attraktiver Standort vor anderen Märkten, einschließlich China, zu platzieren.
Chinas Stärke speist sich aus seiner Größe. Die Volksrepublik verfügt mit einer Bevölkerung von 1,4 Mrd. Menschen über den größten Binnenmarkt der Erde. Die junge und erfolgshungrige Bevölkerung produziert eine Binnennachfrage, die für jedes exportorientierte Unternehmen Grund genug ist, die weitreichenden Zugeständnisse an den chinesischen Staat zu akzeptieren. Auch wenn Indien die Volksrepublik China in Kürze als bevölkerungsreichster Staat der Erde ablösen wird, wird sich an der Dominanz des chinesischen Binnenmarktes wenig ändern, solange das kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf der Chinesen, für das Jahr 2018 auf 18.000 US-Dollar geschätzt, den ausländischen Unternehmen ganz andere Verkaufserfolge verspricht als die Nachfrage aus dem indischen Raum (7.700 US-Dollar).
Das immense Angebot an Arbeitskräften sorgt dafür, dass China bei industrieller Massenfertigung mit geringem Individualisierungsgrad über komparative Vorteile verfügt, sofern sich die Spielregeln nicht ändern. Doch genau das könnte eintreten. Sobald auch kleinteilige Fertigungsprozesse profitabel automatisiert werden können, verliert der Zugang zu billigen Arbeitskräften an Bedeutung und die komparativen Vorteile schwinden. Da auch die Löhne in den Schwellenländern schneller wachsen als in Deutschland, nehmen auch die Personalkostenvorteile im Ausland ab und der Standort Deutschland gewinnt im Hinblick auf die Lohnstückkosten an Attraktivität. In beiden Fällen spielen die Zeit und der technische Fortschritt für und nicht gegen Deutschland.
Dass die Volksrepublik ihren Status als Werkbank der Welt bedroht sieht, zeigt sich in dem Nachdruck, mit dem sie Robotik-Know-How in das eigene Land holen möchte, wie der Kauf des deutschen Robotikherstellers Kuka oder die Verlagerung der Robotik-Abteilung von Siemens nach China belegen.
Wer in diesem wirtschaftlichen Duell auf lange Sicht als Sieger hervorgehen wird, ist noch nicht abzusehen. Doch deutlich abzusehen ist, dass nicht schiere Größe das entscheidende Kriterium sein wird, sondern strategisch intelligente Positionierungen, Wissen und Fertigkeiten, kurz Know-How. Der Rohstoff für dieses Know-How sind Daten. Um sie zu schöpfen, werden die eigentlichen Werkzeuge, die über den Wohlstand der kommenden Generationen entscheiden, benötigt: Patente, Lizenzen und Algorithmen. Wer sie besitzt, kann auch in einer globalisierten, automatisierten Welt und unabhängig von seiner eigenen Größe Wertschöpfung generieren. Um sie geht es dem chinesischen Staat bei den Versuchen, sich in westliche Infrastrukturen einzukaufen. Wie die Volksrepublik ist Deutschland eine Volkswirtschaft mit einem vergleichsweise hohen Anteil industrieller Wertschöpfung. Daher ist Deutschland, insbesondere der deutsche Mittelstand, in besonderer Weise attraktiv für chinesische Investoren. Und dieses Know-How muss von Deutschland entschieden verteidigt werden, selbst wenn dies vorübergehende Handelseinbußen zur Folge hat.
Deutschland hat als Reaktion auf derartige Befürchtungen im Juli 2017 eine Anpassung der Außenwirtschaftsverordnung vorgenommen und in Brüssel zudem auf einen gemeinsamen europäischen Rahmen zur Prüfung von Investitionen aus Nicht-EU-Staaten gedrängt. Es war vorgesehen, dass bei Investitionen in kritische Infrastrukturen, insbesondere in die Betreiber von Energie- und Telekommunikationsnetzen und in Robotik-Anbieter, eine Prüfung der Mitgliedstaaten stattfinden muss und auch der EU-Kommission ein Mitspracherecht eingeräumt wird. Bedauerlicherweise wurde das vorgeschlagene ‚Investitionsscreening‘ durch EU-Länder wie Griechenland, die von den chinesischen Investitionen am meisten profitieren, verwässert, sodass im aktuellen Entwurf nun lediglich eine freiwillige Prüfung vorgesehen ist.
Für einen Abgesang auf Deutschland ist es zu früh. Auch wenn der internationale Konkurrenzdruck für den Standort Deutschland steigen wird, ist die deutsche Volkswirtschaft für die Zukunft gut aufgestellt. Doch nur in einem geregelten internationalen Handels- und Wirtschaftsumfeld, in dem nicht das Recht des Stärkeren gilt, kann Deutschland seine Vorteile auch in Zukunft ausspielen. Der Volksrepublik ist dies mehr als bewusst und daher wenig daran gelegen, dass für alle Akteure dieselben Spielregeln gelten. An dieser Stelle wird aus dem wirtschaftlichen Wettbewerb ein Kräftemessen der politischen Strategien. China wird auch weiterhin versuchen, die Attraktivität des eigenen Binnenmarktes zu nutzen, um bei seinen Partnern die eigenen Vorstellungen durchzusetzen.
Die Wahrung der europäischen Interessen wird daher nur möglich sein, wenn Europa endlich mit einer Stimme spricht und den chinesischen Partnern klarmacht, dass es nicht die politische Steuerung der Wirtschaft und Gesellschaft, sondern der freie Handel und der von Marx so verhasste Kapitalismus waren, die China erst in die Lage versetzt haben, zu den Vereinigten Staaten als letzte verbliebene Supermacht aufzurücken.