Compliance – Placebo für den Vorstand?
Versetzt der Glaube Berge? Irgendwann zu Beginn des 21. Jahrhunderts hielt „Compliance“ Einzug in die Chefetagen (!) der Deutschen Wirtschaft. Zunächst in Aktiengesellschaften, zog der Mittelstand schnell nach. Endlich hatte man ein System zur Verfügung, mit dessen Hilfe man den leidigen Regelverstößen und Rechtspflichtverletzungen einen Riegel vorschieben konnte. Glaubte man zumindest und schluckte fleißig diese Wunderpille. Wie das gelingen sollte, wurde eifrig diskutiert. Das Testat der Wirtschaftsprüfer verlieh dem „Compliance-Management-System“ Segen und Anerkennung. Also alles bestens! Oder etwa nicht?
Auf bunten „Blättern“ verkünden die Webseiten bis heute die angebliche Wirkung. Vertrauen, dieser Begriff wird darin arg strapaziert. Im Widerspruch dazu stehen die Skandale, insbesondere in der Automobilindustrie und im Finanzsektor, aber nicht nur dort. Hat das Compliance-Management-System nun Risse bekommen, oder tritt einfach nur zu Tage, dass der Grundgedanke an sich fragwürdig ist?
Compliance ist ein zusätzliches Regelwerk zur Beachtung von ohnehin bestehenden und verbindlich zu beachtenden internen Regeln und externen Rechtsvorschriften. Eine in der Wirtschaft wohl einmalige Konstruktion. Der Glaube an das Compliance-Versprechen ist bist heute ungebrochen: Mache Compliance und nichts passiert. Versetzt der Glaube jedoch wirklich Berge? Verhalten sich die Menschen nach der ‚Einführung des CMS wirklich von jetzt auf gleich regeltreu? Ein merkwürdiges Führungs- und Menschenverständnis, dass es einer Regel bedarf, damit Regeln beachtet werden. Ja sind denn die Regelverstöße in der Automolindustrie oder im Finanzsektor nicht bekannt, die trotz Compliance betrieben wurden (und möglicherweise weiterhin werden?)?
Es tobt ein hybrider Wirtschaftskrieg, der endlich als solcher verstanden werden muss. Offene Flanken, ausgelöst durch Regelverstöße, sind zusätzliche und sehr willkommene Einfallstore für die Gegner, welche mit neuen, ganz anderen und innovativen Kundenproblemlösungen Mehrwert anbieten und die „alten Hasen“ links und rechts liegen lassen, einfach so, und dass mit beachtlichem Erfolg. Das ist neu, die „Großen“ sind angreifbar geworden, sogar substituierbar. Darin liegt die eigentliche Gefahr für die schwerfälligen und in überholten Unternehmens-, Kommunikations- und Führungsstrukturen verhafteten Flaggschiffe der Deutschen Wirtschaft. Die Aufgabenfelder „Strategie, Recht und Integrität“ sind, sofern überhaupt vorhanden, selten funktional ausgebildet. Ebenso schlimm erscheint das falsche Verständnis der eigenen Produkte, die selten ganzheitlich durchdacht und am Kunden ausgerichtet angeboten werden. Der Kunde wünscht Mobilität, aber er erhält weiterhin ein Auto wie zuvor. Marketing preist unentwegt glänzendes „Blech“ mit viel Elektronik und tollen Versprechungen an. Die „Freude am Fahren“ vergeht in den überfüllten Städten spätestens bei der Suche nach einem wohnungsnahen Parkplatz. Wenn dann die Abgaswerte „geschummelt“ werden und Fahrverbote drohen, fällt jeglicher Glanz und Glaube ab.
Rechtsverstöße und Regelverletzungen wirken toxisch und beschleunigen den Niedergang. Die Gegner haben leichtes Spiel! Das Management spürt davon offenbar wenig. Man baut weiterhin (nur) Fahrzeuge und verkauft Finanzprodukte, die man selbst nicht versteht.
Strategie heißt, Heute für das Morgen Sorge (Prokura) tragen und handeln. Auf Strategie zu verzichten, ist jedoch auch eine Form strategischen Handelns, wenn auch eine sehr gefährliche. In diesen beiden Sätzen sind die gegenwärtigen Defizite vieler Unternehmen beschrieben. Das führt zu verletzlichen und angreifbaren Strukturen. Charismatische Vorstände, z. B. Alfred Herrhausen, waren leuchtende Vorbilder und haben die Gesellschaften geprägt und erfolgreich an den Märkten positioniert. Die Nachfolger haben davon gezehrt, jedoch dann den Konzernen einen anderen Stempel aufgedrückt, der an die Herrschaft im römischen Reich erinnert. Die persönliche Macht (und deren Erhalt) wurde zum alles bestimmenden Faktor.
Der Wandel der Zeit, durch die Globalisierung und Digitalisierung gegenwärtig wie von einem Turbo-Lader angetrieben, führt zu vollkommen neuen Anforderungen in den Unternehmen. Der globale Wandel und die Digitalisierung greifen tief in die unternehmerischen Strukturen ein und erfordern eine neue Führung, damit Delegation von unternehmerischer Verantwortung möglich wird. Nur dann werden auf globalen Märkten Mensch und Technik im Sinne kundenorientierten Handelns zusammenfinden. Die Zeiten sind vorbei, in denen sich der Unternehmenswert an immer neuen Absatz- und Umsatzrekorden und höchst zweifelhaften Bilanzgewinnen orientiert, die dann irgendwann über Rückstellungen abgeschrieben werden. Nur selten werden die für diese Entwicklung verantwortlichen Manager „zur Kasse“ gebeten. Das bleibt in der Belegschaft nicht verborgen.
In diesem Zusammenhang ist nun die Frage der Wirksamkeit von Compliance-Systemen zu stellen. Wurden die Regelwerke nicht verstanden? Wurden sie anhand ihres Umfangs überhaupt jemals verstanden? Haben die ständigen Kontrollen und Prüfungen des rechtskonformen Verhaltens versagt oder war die Anzahl der Kontrolleure zu gering? Oder haben die Ursachen für das Scheitern von Compliance nicht vielmehr viel tiefere Ursachen?
Die Großen verschlafen immer noch den Wandel der Zeit! Das gilt nicht für den Mittelstand, der Säule der Deutschen Wirtschaft. Hier werden fortgesetzt hervorragende Leistungen erbracht, die weltweit Anerkennung und damit Umsatz und Ergebnis finden. Ganzheitlich durchdachte Kundenproblemlösungen – viel mehr als ein Produkt – tragen dazu bei. Denkbar auch, dass die im Vergleich zur Großindustrie eher bescheidene Größe Vorteile für die Führung und damit die Unternehmensfunktion bietet. Denkbar auch, dass hier Führung noch in einer ursprünglichen und förderlichen, die Menschen motivierenden Art und Weise möglich ist. Das zeigt sich dann auch darin, dass Regelverstöße eher eine Ausnahme sind. Vom Mittelstand lernen, wäre eine erste Empfehlung an die Großen!
Die „Großen“ besäßen das Vermögen, sich Denkfabriken zu leisten, in denen die Zukunft strategisch vorbereitet wird und Lösungen entwickelt werden, die weg von der Einzelbetrachtung eines Produkts und hin zu ganzheitlichen Anwendungen führen. Am Beispiel der Automobilindustrie kann dieser Anspruch einfach aufgezeigt werden. Es werden „Autos“ hergestellt und verkauft, viel Blech, noch mehr Elektronik, selbstfahrend usw. Tatsächlich benötigt der Kunde Mobilität. Diese ist im Zeitalter der Digitalisierung möglich, gleichwohl sind die diesbezüglich möglichen Lösungen strategisch bisher wohl noch nicht bedacht worden. Man beschäftigt sich weiterhin mit Compliance und verspricht Vertrauen auf den Webseiten, bunten Blättern im Herbst gleich, die von den Bäumen fallen. Aber davon nehmen scheinbar nur die Kunden Kenntnis. Der Winter kommt bestimmt!
Wenn das Unternehmen wie eine mechanische Uhr tickt, die vielen Rädchen im Gleichklang „ticken“, dann, nur dann funktionieren die Geschäftsprozesse. Nur dann haben alle Beschäftigten verstanden, was unternehmerische Verantwortung bedeutet. Regelverstöße und Rechtspflichtverletzungen stören den Gleichklang und sind tabu. Das erkennen die in ganzheitlich modellierten Prozessen unternehmerisch tätigen Menschen. Regeltreue wird zum Standard. Das macht Führung aus, wenn die Menschen nicht mehr Mit-Arbeiter sind, sondern ihr Vermögen (!) in unternehmerisches verantwortliches Handeln umwandeln (dürfen, können!) und in der Summe einen lebendigen Organismus verwandeln, der gemeinsam auf die Ziele und für die Kunden hinarbeitet. Das System „Ameisenstaat“ kommt in den Sinn, die Ordnung im scheinbaren Chaos, die uns beim Spaziergang im Wald so beeindruckt. Alles ständig in Bewegung, die Kunden im Fokus, und das in einer ständig selbstlernenden Gemeinschaft. Nur so hat profitables Wachstum auf globalen Märkten in Zukunft Chance.
Compliance? Nein! In Zukunft muss Regeltreue selbstverständlicher Anspruch in organisch strukturierten unternehmerischen Gebilden sein, in denen neue Formen von Führung, soziale und unternehmerische Verantwortung aller Glieder praktiziert wird.
Die Zukunft muss täglich neu erfunden werden. Der Wandel beginnt im Kopf!
Heinz Lorse November 2018